Sie werden einem Asperger Kind nicht ansehen, dass es das Syndrom hat, denn äußerlich gibt es keine besonderen Merkmale. Sie sehen aus wie jedes andere Kind und besitzen gleiche, möglicherweise auch besondere intellektuelle Fähigkeiten. Trotzdem unterscheiden sie sich sehr stark von anderen Kindern.

Unangemessenes Verhalten

Ich denke an eine Situation zurück, die ich in der S-Bahn mit meinem Sohn erlebt habe. Wir saßen zusammen im Fahrradabteil auf herunterklappbaren Sitzen. Die gleiche Reihe an Sitzen uns gegenüber. Dort saß ein älterer Mann, der seine Zeitung las. Mein Sohn betrachtete ihn aufmerksam und geduldig. Plötzlich sah er mich an und sagte: „Mama? Wieso liest der Opa in der Bahn die Zeitung und wo sind seine Haare? Er hat fast keine mehr. Es sind nur noch ganz wenige!“

Ehe ich ihn stoppen konnte, hatte er es schon ausgesprochen. Ich hatte Glück, denn der Mann nahm es mit Humor. Ich habe ihm dann versucht zu erklären, dass man so in der Öffentlichkeit nicht von einem Menschen spricht, der einem gegenüber sitzt. Und vor allem nicht in der Lautstärke. Mein Sohn schaute mich an und sagt daraufhin ganz entrüstet: „Aber wieso Mama, er ist doch schon so alt und seine Haare sind nicht mehr da!“ Mein Sohn konnte nicht nachvollziehen, warum ich so peinlich berührt war, denn er kann meine Emotionen nur schwer bis gar nicht lesen. Er begreift auch nur bedingt, warum der Betroffene vielleicht gekränkt sein könnte, schließlich hat er doch nur beschrieben, was er gesehen hatte.

Spezialinteressen oder ausgeprägtes Interesse an Gegenständen

Sehr oft haben diese Kinder ein ausgesprochen großes Interesse an ganz bestimmten Themen oder Gegenständen. Das können beispielsweise Züge und Autos, aber auch Themen im Bereich der Wissenschaft sein. Was es genau ist, hängt natürlich auch maßgeblich vom Alter des Kindes ab. Bei meinem Sohn waren es erst Züge, dann Stöcke, die er bei jeder Gelegenheit sammelte und mit nach Hause nahm. Irgendwann hat sich das Verhalten etwas verändert und das Spezialinteresse für Personen ist hinzugekommen. Zunächst hat er sich für Michael Jackson begeistert und danach wurde er sozusagen von Jesus abgelöst, der  „bis heute geblieben ist.“

Unentwegt muss ich seine Fragen zu Jesus und dem christlichen Glauben beantworten. Er möchte alles möglichst genau und natürlich sofort wissen. Das Thema ist komplex und ich habe nicht immer eine adäquate Antwort auf seine Wissensgier. So fragte er beispielsweise kürzlich plötzlich: „Mama? Wird die Seele eines Menschen, wenn sie in den Himmel aufgestiegen ist älter oder bleibt sie so alt, wie der Mensch war, als er gestorben ist?“

Ich war so baff, dass ich mich erst einmal sortieren musste. Aber mein Sohn duldet keine Pausen, er erwartet sofort eine Antwort. Selbst wenn ich ihm sage, dass ich kurz nachdenken muss, hat er dafür kein Verständnis. Manchmal wird er richtig sauer und schreit quasi nach einer Antwort. Diese ständige Gier nach Wissen nimmt einen großen Teil der Freizeit ein. Wenn ich ihn beispielsweise aus dem Kindergarten abhole, löchert er mich meistens im Auto während der ganzen Fahrt nach Hause mit seinen Fragen. Ich sage immer scherzhaft, dass ich mich fühle, als sei ein Maschinengewehr mit Fragen auf mich gerichtet. Teilweise kann ich mich nicht mehr auf den Straßenverkehr konzentrieren. Manchmal musste ich anhalten, um ihm zu erklären, dass ich solche tiefgründigen Fragen nicht mal eben nebenbei beatworten kann. Er versteht dies jedoch nicht. Er hat die Erwartungshaltung, dass ich alles wissen muss und vor allem jeden kennen muss. Dies ist im Übrigen auch ganz typisch für ein Asperger Kind, denn sie setzen grundsätzlich voraus, dass sein Gegenüber weiß, wovon es spricht. Frei nach dem Motto „Du kennst Erna nicht? Du musst doch Erna kennen!

Redewendungen und wortwörtliche Interpretation

Hinzu kommt, dass sie Redewendungen wörtlich interpretieren. So sagte ich auf einer Autofahrt zu meinem Sohn „Bitte mach mal eine Rede-Pause, mir brummt schon der Kopf!“

Mein Sohn war ganz entrüstet und sagte, mein Kopf würde nicht brummen, er würde nichts hören. Ich musste lauthals lachen und konnte mich kaum beruhigen. Er wurde sehr sauer und sagte immer wieder: „Nein! Nein! Ich höre gar nichts! Warum hast du gesagt, dass er brummt?! Es stimmt doch gar nicht!“ Jeder Versuch meinerseits zu erklären, wie ich das gemeint habe, scheiterte und scheitert bis heute.

Sprache und Sprachmelodie

Die Sprache von Kindern mit Asperger Syndrom ist oftmals ein weiteres prägnantes Merkmal, denn sie sprechen häufig in einem ungewöhnlichen Tonfall, sind pedantisch oder drücken sich übergenau aus. Eine Ärztin sagte mal zu mir, dass mein Sohn teilweise wie ein Erwachsener spräche. Man kann teilweise den Eindruck gewinnen, ein wandelndes Lexikon säße einem gegenüber.

Schule, Aufmerksamkeit und Wahrnehmung

Spätestens in der Schule fällt dieses Ungleichgewicht der Fähigkeiten dann meist zum ersten Mal auf. Mein Sohn hat beispielsweise ein sehr ausgeprägtes Langzeitgedächtnis und kann sich an Situationen aus der frühsten Kindheit erinnern. Als ich meine Kinderärztin mal darauf ansprach, gab sie mir deutlich zu verstehen, dass diese frühen Erinnerungen nicht abrufbar seien. Doch sie sind es, denn er kann mir detailgetreu von seinen Erlebnissen berichten und ich weiß als Mutter am besten, dass er sich tatsächlich erinnern kann.

In der Schule kann eine mangelhafte Konzentrationsfähigkeit problematisch sein. Wenn ein Aspi nicht am Thema interessiert ist, schweift das Kind mit seinen Gedanken ab. Es ist nicht so, als würde es nicht zuhören, aber es ist schlicht nicht interessiert. Oft wirken die Kinder auch so, als würden sie ins Leere schauen und wären völlig abwesend. Das stimmt so nicht, denn auch wenn die betroffenen Kinder den Lehrer nicht mit ihren Augen anschauen, sehen sie trotzdem was er tut. Nur nehmen sie viel mehr gleichzeitig wahr, als ein Kind ohne das Syndrom. So speichert das Kind etwa ab, welche Beschaffenheit die Hose des Lehrers hat, ob da eventuell ein Fussel hängt, der da nicht hingehört oder ob die Zimmerpflanze auf der Fensterbank ein braunes Blatt hat und eines schon heruntergefallen ist. Solche Sachen und noch vieles mehr, nimmt ein Asperger Kind wahr. Hinzu kommt noch die Geräuschkulisse. Es kann sein, dass ein Betroffener das Ticken der Uhr genauso laut empfindet, wie das Sprechen des Lehrers. Dies kann natürlich zum Problem werden, denn unter solchen Umständen ist es schwer die Aufmerksamkeit zu halten. Die Kinder können das Wichtige vom Unwichtigen nicht unterscheiden. Sie nehmen alles gleichzeitig und ungefiltert wahr. Oftmals kommt es dann verständlicherweise zu einer Reizüberflutung. Es ist dann wichtig, dass das Kind sich eine Auszeit nehmen kann. Kopfhörer können in so einer Situation hilfreich sein oder eine Auszeit vor dem Klassenzimmer.  Andererseits kann es eine ganz ausgeprägte Ausdauer an den Tag legen, wenn es um ein Spezialinteressengebiet geht. In diesem Fall kann das Kind ganz eigenwillige, individuelle und interessante Lösungsansätze finden.

Gleichaltrige Kinder und altersgemäße Interessen

Oftmals können die Kinder mit Gleichaltrigen nicht so viel anfangen. Sie scheinen nicht selten eine andere Sprache zu sprechen. Ich beobachte bei meinem Sohn häufig, dass er die Kinder in seiner Kindergartengruppe regelrecht mustert. Es scheint so, als wolle er sie entschlüsseln. Manchmal fragt er mich, warum ein Kind dies oder jenes tut. Er kann manche Verhaltensweisen nicht nachvollziehen, sie wirken befremdlich auf ihn und er kann sich nicht hineindenken. Manchmal fühle ich mich ein bisschen wie ein Übersetzer. Ich übersetze Emotionen und Handlungen und versuche ihm näherzubringen, warum sich zwei Kinder für ein Memory-Spiel begeistern können. Dieses Spiel ist bis heute für ihn ein rotes Tuch. Er hasst es und sieht im Suchen von zwei gleichen Karten scheinbar keinen Sinn.

Sehr häufig sind Aspis im Kindergarten und in der Schule isoliert und sie werden nicht selten auch gehänselt. Sie wirken auf ihr Umfeld sonderbar und reagieren auch für ihr Umfeld oft nicht nachvollziehbar und unvorhersehbar.

Beispiel für eine typische Situation

Mein Sohn geht oft ohne ein „Hallo!“ auf andere Menschen zu und fängt unbefangen an zu reden. Es ist ihm dabei völlig egal, ob ein Mensch drei oder siebzig Jahre alt ist. Er geht zu einer Person und sagt „Der Parasaurolophus hatte eine riesigen Knochenzapfen auf dem Kopf und war soundso groß….“

Mein Sohn redet und redet und registriert meist nicht, dass sein Gegenüber verwundert und nicht selten auch irritiert ist. Die meisten Menschen wissen nicht, wovon er spricht. Einem Aspi fehlt diese Fähigkeit der Kommunikation. Sie können sich nicht vorstellen, dass jemand nicht wissen kann, wovon er spricht. Hinzu kommt auch, dass viele nicht einschätzen können, ob man überhaupt eine Person ansprechen kann oder nicht. In der Öffentlichkeit spricht mein Sohn häufig Menschen an, die andere Kinder aufgrund ihres Verhaltens eher meiden würden. Sie schauen beispielsweise grimmig oder meiden gar jeglichen Blickkontakt. Doch einem Aspi fehlen diese feinen zwischenmenschlichen Antennen, um wahrzunehmen ob das Gegenüber ihm wohlwollend oder gar abgeneigt ist. Sie unterbrechen ihr Gegenüber auch häufig und wirken dabei ziemlich unhöflich. Teilweise schauen sie ihr Gegenüber beim Sprechen nicht an und springen im Gespräch zwischen Themen hin und her. Das macht es natürlich schwer, ein gutes Gespräch aufzubauen. Es kann auch sein, dass sich ein Aspi plötzlich mitten im Gespräch abwendet und geht. Das wirkt auf den Gesprächspartner sehr befremdlich. Die soziale Interaktion ist stark eingeschränkt. Es führt in der Regel dazu, dass die Kinder im Kindergarten und der Schule isoliert werden und sich keine richtigen Freundschaften entwickeln. Die mangelnde Fähigkeit, die Körpersprache anderer zu deuten und dementsprechend zu handeln, ist ein wesentliches Merkmal des Asperger Syndroms. Auch Anmerkungen der Apis über Menschen, die zwar inhaltlich richtig, aber in diesem Moment vielleicht völlig unangemessen sind, erschweren das Knüpfen von Beziehungen maßgeblich. Wenn ein Kind beispielsweise zu seinem Gegenüber sagt: „Du hast ja ein komisches Ohr, es ist etwas größer als das andere und steht sogar ab!“, dann kann diese Beobachtung zwar richtig sein, aber das Gegenüber fühlt sich höchstwahrscheinlich gekränkt und wird sich vermutlich abwenden.

Motorische Ungeschicklichkeit und eigenartige Bewegungsabläufe

Eine eingeschränkte oder unbeholfen wirkende Motorik sind keine zwingenden Diagnosekriterien, aber sie kommen bei den meisten Betroffenen des Aperger Syndroms vor. Mein Sohn ist nie gekrabbelt und er hat auch sonst auf dem Weg zum Laufen lernen alle üblichen Entwicklungsschritte ausgelassen. Er hat sich lange Zeit rollend fortbewegt. Später hat er dann genau beobachtet wie die Kinder in seinem Alter laufen. Zu keinem Zeitpunkt hat er sich an Gegenständen entlang gehangelt, so wie sich die Kinder üblicherweise zu helfen wissen. Meine Kinderärztin sagte damals, dass sie glaubt, er analysiert die Bewegungsabläufe und steht eines Tages auf und beginnt zu laufen. Genauso war es. Er stand mit ca. 18 Monaten auf und lief los. Er fiel auch nicht ständig hin, so wie man es erwartet hätte. Im Prinzip lief er wie alle anderen Kinder in seinem Alter, nur mit dem Unterschied, dass die anderen Kinder alle Zwischenschritte mit robben, krabbeln, sich hochziehen, an Gegenständen entlang laufen und an der Hand gehen, durchlaufen hatten. Er hatte diese Meilensteine einfach ausgelassen. Damals kam dieses Aufstehen und loslaufen völlig überraschend für uns als Eltern. Es kam wie aus dem nichts. Niemand hatte von uns damit gerechnet, denn wir waren kurz davor einen Physiotherapeuten aufzusuchen, um ihn bei den Bewegungsabläufen zu unterstützen und seine Muskeln zu stärken.

Von dieser Art der Überraschungen (im Positiven) sollten noch viele weitere folgen und es werden noch viele folgen. Immer wenn ich dachte, dass er doch langsam einen entscheidenden Fortschritt machen müsse und ein Entwicklungsschritt kommen muss, ließ dieser meist auf sich warten. Wenn ich dann schon fast ein bisschen entmutigt bin, überrascht er mich immer wieder aufs Neue. Manchmal auch mit einer Wucht, die mich vor Freude zum Weinen bringt. So hatte mein Sohn beispielsweise während der gesamten Kindergartenzeit Schwierigkeiten damit, ein Bild farbig auszumalen, ohne dabei über die Linie zu malen. Wenn er einen ganz schlechten Tag hatte, malte er scheinbar wahllos über eine Figur. Er schien dabei gedankenverloren und konnte mein Entsetzen in keiner Weise nachvollziehen. Ihm selbst machte es gar nichts aus. Das Ergebnis musste für ihn weder schön, noch gut, noch ansehnlich sein. Es war ihm völlig gleich.

Vor kurzem haben die Kinder im Kindergarten das Buch „Die kleine Hexe“ von Otfried Preußler gelesen. Im Lockdown haben wir dann Arbeitsmaterialien zu diesem Thema für zu Hause bekommen.

Unter anderem auch mehrere Malvorlagen, welche die kleine Hexe zeigen. Ich staunte nicht schlecht, als er die Vorlage akkurat und detailgetreu ausmalte. Er griff sogar zum Radiergummi, wenn ein Strich minimal zu weit geraten war. Alle Farben stimmten mit dem Bild im Buch überein. Ich konnte es nicht fassen, denn noch nie hatte er eine derartige Leistung erbracht. Auf meine Frage hin, wieso er plötzlich so perfekt und toll ausmalen könnte, sagte er mit einem gewissen Unterton. „Weil das Bild mir gefällt!“