Mit Autismus durch die Pandemie
Für alle Menschen ist es gerade eine schwierige Zeit. Die sozialen Kontakte fehlen, nichts läuft wie gewohnt und alles ändert sich ständig. Was heute noch als Regel gilt, kann morgen schon wieder nicht mehr aktuell sein. Besonders Menschen mit Autismus und dem Asperger-Syndrom brauchen einen strukturierten Alltag. Ihnen vermittelt die Routine, wenn der Tag immer gleich abläuft, extrem viel Sicherheit. Es macht den Alltag ein Stück berechenbar. Doch die Corona-Krise brachte auch positive Aspekte mit sich.
Vor Corona wussten die Kinder, dass sie morgen in den Kindergarten gehen, um halb zwölf das Essen kommt und es danach raus in den Garten geht. Am Nachmittag gab es fixe Termine wie beispielsweise Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie. Dann kam im Frühjahr 2020 die Pandemie und stellte das Leben gehörig auf den Kopf. Die wertvolle Routine war urplötzlich dahin. Bisher gab dies den Kindern mit Asperger Halt und ein Gefühl von Sicherheit.
Sich an Veränderungen zu gewöhnen kostet sie viel Energie und sie brauchen oft mehrere Wochen, sich darauf einzustellen. Viele Kinder schlafen auch schlechter und sind erschöpft. Kinder können sich auch sehr stark zurückziehen und ins Schweigen verfallen. Oder es wirkt sich gegenteilig aus und sie drücken ihren Stress durch Wut und Aggressionen aus. Das enge Umfeld wie die Eltern und Großeltern erkennen sofort, dass es ihnen nicht gut geht.
Vereine und andere Einrichtungen sind geschlossen
Dass der örtliche Fußballverein derzeit zu ist und es keine Spieltreffs geben darf, stört Aspies in aller Regel nicht sonderlich. Auch vor Corona waren diese Kinder eher ungern ein Mannschaftsmitglied oder sangen auf Kommando im Chor. Meist sind es genau diese Situationen, die dem Kind Angst machen, wenn in ihren Augen alles überfüllt und chaotisch ist, denn das widerspricht ihrem Bedürfnis nach Struktur. Andererseits waren die Treffen auf dem Spielplatz oder zum gemeinsamen Singen am Nachmittag ein Training. Für meinen Sohn war es eine Art Herausforderung, sich in eine Gruppe einzugliedern und eine „Leistung“ zu einem bestimmten Zeitpunkt abzurufen.
Das Aperger Syndrom ist eine Form von Autismus. Die meisten Verhaltensweisen, welche Menschen automatisiert abrufen, müssen sich Menschen mit Asperger Syndrom erst mühevoll durch Beobachtung erarbeiten. Dabei helfen solche Situationen beim gemeinsamen Musizieren oder dem freien Spiel auf dem Spielplatz. Diese Kinder analysieren ihr Gegenüber und ziehen daraus wertvolle Schlüsse bezüglich der sozialen Interaktion. Sie müssen erst verstehen wie sich andere Kinder verhalten, um eine soziale Verhaltensweise selbst anwenden zu können.
Was für andere Entspannung ist, strengt ein Kind mit Asperger extrem an
Durch die Teilnahme an einer Tätigkeit, die in der Gruppe stattfindet, kann das Kind seine Konzentrationsfähigkeit trainieren und lernen, die Flut an Reizen, die es permanent wahrnimmt, etwas auszuhalten und vielleicht sogar teilweise auszublenden. Autisten sind sehr empfindlich gegenüber Reizen und sie lassen sich viel schneller von Geräuschen und Eindrücken ablenken. In der Kindergruppe können sie sich vom Stimmengewirr der anderen Kinder völlig überfordert fühlen. Hinzu kommen akustischen Reize wie das Quietschen der Tür, ein Uhrenticken, Getrampel vom oberen Stockwerk, plus die optischen Reize wie das „Gewusel“ der umherlaufenden Kinder, der Vogel, der gerade auf dem Kindergartenvordach gelandet ist und der Hausmeister, der gerade den Flur kehrt. All diese Reize strömen ungefiltert auf das Kind ein. Es ist nicht in der Lage, diese ganzen Nebenschauplätze auszublenden, bzw. das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden. Vielen Aspies fällt es schwer in Kontakt mit anderen Kindern zu treten. Sie wissen nicht wie man ein Gespräch anfängt und wirken bei einem Versuch oft ungeschickt oder auch etwas harsch. Mein Sohn ging bis vor kurzem beispielsweise auf Kinder zu und fing unvermittelt von seinem Lieblingsthema den Dinosauriern zu reden. „Kennst du den Pteranodon? Das war ein Flugsaurier und er war soundso groß und …“
Dabei vergaß er, das Kind erst einmal zu begrüßen und zu sagen, wer er ist. Die meisten Kinder reagieren sehr irritiert, denn wenn sie fragen, wie er heißt, antwortet er nicht zwingend. Es kann auch sein, dass er längst einem neuen Reiz nachgeht und sich plötzlich von einer weißen Katze angezogen fühlt, die weiter weg entfernt in einem Fenster zu sehen ist. Diese Gedankensprünge kann ein Außenstehender natürlich nicht nachvollziehen. Es kommt oft vor, dass die Kinder sich abwenden und ich aus deren Gesichter lese, dass sie ihn sonderbar finden.
Es hat viele Jahre gedauert, bis mein Sohn die ungeschriebenen Regeln eines Gespräches verstanden hat. Immer wieder habe ich ihm gesagt, dass er erst einmal auf ein Kind zugehen soll und sich vorstellen muss. Er sozusagen nicht gleich mit der Tür ins Haus fällt. Er ist nun sechs Jahre alt und ich muss sagen, dass es besser wird. Ich beobachte immer häufiger, dass er tatsächlich diese oft trainierten Sätze herausbringen kann und ihm dadurch der Einstieg ins Spiel gelingt. Es macht mich sehr froh, denn er ist ein lieber Kerl, der gerne am Spiel teilhaben möchte. Oft habe ich ihn dabei beobachtet, wie er vor seinem Spiegel im Zimmer stand und sein Gesicht betrachtete. Er „setzte unterschiedliche Gesichter auf“ und schaute mal fröhlich, mal wütend und mal grimmig. Dann fragte er mich: „Mama wie schaue ich gerade?“
Er brauchte von mir noch einmal die Erklärung zu seinem Gesichtsausdruck, um es für sich zu lernen und zu verinnerlichen. Wie eine Art Training der unterschiedlichen Ausdrücke. Im Kindergarten ist mir aufgefallen, dass er als letzter lacht und dann meist übermäßig laut. Er schaut also erst, was die anderen tun und imitiert dieses Verhalten dann. Dabei schießt er sozusagen auch etwas übers Ziel hinaus.
Was bei uns also völlig automatisch abläuft, muss sich ein Kind mit Asperger-Syndrom mühsam antrainieren und immer wieder üben. Weil die Kinder dies durchaus spüren, sind sie oft ängstlich in ein Gespräch einzusteigen. Sie haben Angst etwas Falsches zu sagen und neigen dann dazu, über ein Thema zu sprechen, in dem sie sich gut auskennen. Möglicherweise halten sie dann einen regelrechten Monolog, um ihre Unsicherheit zu kompensieren. An vertrauten Orten fällt es ihnen leichter, diese Hürde zu nehmen.
Wie sehr schränken Masken die Kommunikation ein?
Aspies fällt es sowieso schwer, die Mimik ihres Gegenübers zu interpretieren und sie richtig einzuordnen. Wenn jetzt dazu noch plötzlich 2/3 des Gesichtes durch das Tragen der Maske ausgeblendet ist, sind die Kinder sehr verunsichert. Jahrelanges intensives Training, um die Ausdrücke des Gesprächspartners lesen zu können, sind plötzlich dahin. Es fällt den Kindern sehr schwer, im Gesicht der anderen Gefühle zu erkennen und zwischen Ernst und Ironie zu unterscheiden. Redewendungen nehmen sie wörtlich und können die Intention nicht erkennen. Als ich kürzlich zu meinem Sohn sagte: „Mir raucht der Kopf, ich muss mal eine Pause vom Computer einlegen.“, sah er mich total entsetzt an und suchte den „Rauch“. Er war ganz aufgebracht und sagte immer wieder energisch: „ Nein Mama!! Dein Kopf raucht doch nicht! Warum hast du das gesagt?“.
Ich versuche ihm dann zu erklären, was ich damit gemeint habe. Er versteht was ich sage, aber besteht am Ende doch darauf, nochmals festzuhalten, dass mein Kopf nicht raucht. Man kann in dieser Pandemie versuchen, mit dem Kind verstärkt die Interpretation der Stimme zu üben. Das ist sicherlich eine große Herausforderung. Aber es sinnvoll, damit die Kinder sich nicht so hilflos fühlen.
Abstand halten und weniger Körperkontakt
Das sind sicherlich Aspekte der Corona-Maßnahmen, die den Asperger-Kindern und Autisten nicht schwer fallen. Sie möchten ohnehin nicht angefasst werden und meiden in der Regel nahen Körperkontakt. Das gilt ganz besonders für fremde Menschen. Für sie ist es viel angenehmer, wenn die Menschen mehr Abstand halten und sie nicht berühren. Wenn Kinder meinen Sohn spontan umarmen, wird er meist steif wie ein Brett und weiß nicht recht wie ihm geschieht. Für ihn ist es die totale Reizüberflutung. Er findet sogar Gefallen an der allgemein etablierten Begrüßung mit dem Ellenbogen, denn sie ist weniger intim und angenehmer. Das ist sicherlich ein positiver Aspekt der Pandemie. Alles in allem werden die Betroffenen auch erleichtert sein, wenn wir zur Normalität zurückkehren können, denn der ständige Wechsel der Auflagen und Bestimmungen verunsichert die Aspies mehr als alle anderen. Sie sehnen sich nach Strukturen, Routine und Klarheit.